Die Schulschließungen in der Corona-Krise haben dafür gesorgt, dass sich auf einmal Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte mit digitalem Lernen auseinandersetzen mussten und die Auswirkungen davon haben erhebliche und längerfristige Folgen für deutsche Schulen. Für die Kitakinder bestehen diese in einer reduzierten Schulreife, für die Schülerinnen und Schüler in einer erhöhten Gefährdung ihrer Versetzung, einer Zunahme bei den Schulabbrüchen und geringeren Abschlussquoten bei der weiterführenden Bildung. Daher ist es wichtig, Schule neu zu denken. Kreative Veränderer sind nun gefordert.
Das wissen wir alle. Corona hat die Defizite an den Schulen zutage gebracht. Weder Schüler noch Lehrkräfte waren darauf vorbereitet. Circa zwei Drittel der Lehrer und Lehrerinnen gaben an, nicht genügend vorbereitet gewesen zu sein. Die Pisa-Studien, welche jedes Jahr herauskommen, bescheinigen Deutschland lediglich einen Platz im Mittelfeld. Die Leistungen der Schüler und Schülerinnen sind in einigen Fächern sogar rückläufig.
Besonders alarmierend: Jeder fünfte Schüler (20,7 Prozent) erreicht nur eine niedrige Lesekompetenzstufe. Auch der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Ergebnisse liegt hierzulande deutlich über dem OECD-Durchschnitt – in Deutschland hat die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler einen besonders starken Einfluss auf deren Leistungen. Die Corona-Krise und die wochenlangen Schulschließungen werden diesen Befund verstärken. Das deutsche Schulsystem hat die digitale Revolution weitgehend verschlafen und steckte bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in der Buch- und Prüfungsschule des 19. Jahrhunderts fest. Die enorme Wertschätzung, die Schulen und Lehrkräfte in der Zeit während der coronabedingten Schulschließungen in der Öffentlichkeit erfahren haben, macht Mut für die nächste Zukunft und bietet Chancen, neue Wege zu gehen. Jetzt schlägt die Stunde der kreativen Veränderer.
Dr. Daniel Dettling – Jurist und Politwissenschaftler
Heute sind fast 100 % der Kinder und Jugendlichen online. Die Schule der Zukunft sollte das vermitteln, was KI nicht kann: Kreativität, soziales Handeln, kritisches Denken, gemeinsame Werte, Kooperationsfähigkeit und (mediale) Selbstkompetenz.
Dr. Daniel Dettling brachte nun 2021 Trendguides heraus, die das Lehren ganz neu denkt.
Wir leben in einer Epoche gleichzeitiger Krisen. Gesundheit, Klima, Migration und Globalisierung fordern unsere Gesellschaften heraus. Die Antwort auf die „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) ist die „risikokompetente Gesellschaft“ (Gerd Gigerenzer). Risikokompetenz wird zur Voraussetzung, um in der Welt von morgen bestehen zu können, individuell wie gemeinschaftlich. Der Bildungsforscher Gigerenzer fordert ein „Curriculum der Risikokompetenz“ für Schulen mit den drei Themen Gesundheit, Finanzen und Digitales.³⁹ „Das Ziel ist eine neue Generation, die das Wissen und den Willen hat, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.“
In Zukunft kommt es auf ein Set von analogen und digitalen Kompetenzen an, die junge Menschen erwerben sollten. Neben den bekannten Grundkompetenzen Sprachen, Rechnen, Lesen und Schreiben, Geschichte, Naturwissenschaften, Wirtschaft und Politik werden nach dem 4-K-Modell der Organisation „Partnership for 21st Century Learning“ in Zukunft vier analoge Kompetenzen wichtig: Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Kollaboration. Kreativität ist die Kunst, Probleme zu lösen und steht für die Fähigkeit, auch unkonventionell zu denken. Kreative Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, aus gewohnten Denkmustern und Normen auszubrechen und auf neue Ideen zu kommen. Kritisches Denken ist die Fähigkeit, eigenständig und vernetzt zu denken und ein Bewusstsein für globale Trends und Zusammenhänge zu entwickeln. Dazu gehört auch der Umgang mit falschen Informationen (Fake News) und sozialen Medien. Kollaboratives Lernen und Arbeiten in Teams ist zentral für das soziale Miteinander und das Erarbeiten von Wissen und Kompetenzen. Der Alltagsbezug und die Frage nach dem „Warum“ und „Wofür“ werden dabei wichtiger.
Dr. Daniel Dettling – Jurist und Politwissenschaftler – »Kompetenzen für das 21. Jahrhundert«
Ich möchte Euch Beispiele von Schulen vorstellen, die bereits heute neue Lernkonzepte umgesetzt haben und die (wie sollte es auch anders sein) sehr erfolgreich sind.
Die Aachener Gesamtschule war einmal eine ganz normale Realschule. Seit 2012 hat sich das erheblich geändert. Es gibt keine Lehrer und Lehrerinnen mehr, sondern nur noch Lerncoaches und Tutoren. In Lernbüros werden die Kernfächer (Englisch, Deutsch, Gesellschaftslehre, Mathematik und Naturwissenschaften) erarbeitet. In Projektzeiten lernen die Schüler und Schülerinnen eine Vielfalt an methodischen Fertigkeiten: Eigene Forscherfragen entwickeln, Probleme erkennen und Lösungsstrategien erarbeiten, im Team lernen, Präsentationstechniken. Kooperationsbereitschaft und die Fähigkeit Kompromisse einzugehen,
Um Begeisterung zu wecken oder auch wiederzuerwecken, laden wir die uns anvertrauten SchülerInnen ein, ermutigen und inspirieren sie, sich auf Neues einzulassen. Unserer Überzeugung nach braucht Lernen verbindliche und vertrauensvolle Beziehungen. Deshalb sind Vertrauen, Ermutigung und Wertschätzung zentrale Elemente unserer Lernkultur, in der sich die Potentiale unserer SchülerInnen entfalten können. Die an unserer Schule umgesetzte Kultur des Lernens in Lernbüros, Werkstätten und Projektzeiten, unterstützt durch ein nachhaltiges Beratungssystem, gibt allen SchülernInnen die Gelegenheit zu erfahren, dass jeder etwas kann, dass jeder so, wie er ist, gemocht wird, dass jeder mit seinen besonderen Begabungen und Fähigkeiten gebraucht wird, um gemeinsam mit anderen im Team etwas zustande zu bringen. Verantwortung ist dabei das zentrale Element: Verantwortung für den eigenen Lernprozess und die Ergebnisse, Verantwortung für die Gemeinschaft, Verantwortung für den Lern- oder Teampartner, Verantwortung für die Umgebung, in der wir leben, Verantwortung für den Umgang miteinander.
https://www.aachener-gesamt.schule/allgemein/potentialentfaltungskultur/unsere-schule/schulprogramm/
Realschule am Europakanal Erlangen
Die Realschule am Europakanal in Erlangen ist eine digitale Schule. Sie nutzt moderne IT-gestützte Systeme zur Verbesserung des Lernens, um die Kommunikation mit Erziehungsberechtigten zu erleichtern und um Bürokratie zu reduzieren. Es gibt iPad-Klassen (7. bis 10. Stufe), in denen jedes Kind ein iPad hat. Der Unterricht funktioniert hauptsächlich über dieses Gerät. Durch den Umgang mit dem iPad wird unter anderem auch wie selbstverständlich Medienkompetenz vermittelt. Unterstützt durch unseren EDU-BLOG wird für alle Eltern und Schülerinnen und Schüler transparent Unterrichtsinhalte im Internet veröffentlicht. In den fünften Klassen werden Projektklassen angeboten. Die Projektarbeit bietet die Möglichkeit, verstärkt Eigeninitiative, Engagement, Teamarbeit und Kreativität in konkreten Aufgabenstellungen zu entwickeln. Dafür wurde ein Logbuch für die Schülerinnen und Schüler entwickelt und die Lehrkräfte in Teams ausgebildet.
In Zusammenarbeit mit der Universität Erlangen-Nürnberg und dem Nessi-Lab haben wir ein Konzept für die Forscherklassen entwickelt. In vielen Versuchen über das Schuljahr hinweg lernen die Schüler:innen naturwissenschaftliche Fragestellungen und Arbeitsweisen kennen und können dies in ihrem eigenen Tempo ausprobieren.
Der Schulentwicklungsprozess wird durch ein modernes Schulmanagementkonzept getragen. Viele IT-gestützte Informationssysteme unterstützten dabei die effektive und schnelle Kommunikation der verschiedenen Lehrerteams der Schule. Wir nutzen WIKIs als Wissensplattform, kommunizieren effektiv über E-Mail. Elektronische Stundenpläne, Terminkalender sowie ein professionelles elektronisches Elternkommunikationssystem reduzieren die Bürokratie in der Schule. Zusammen mit dem Sportinstitut der Universität Erlangen Nürnberg haben wir eigene Bewegungskonzepte entwickelt. Neben den Sportklassen fördern wir die Bewegung im Sinne des Lernens durch Bewegungskisten, Bewegungstutoren und die bewegte Pause. Entwicklung eines flexiblen Konzeptes für Zeit und Raum. Wir möchten neben der Weiterentwicklung der Medienreferenzschule den Projektunterricht auf weitere Klassen ausdehnen und jahrgangsübergreifende Lernbüros einführen.
https://www.real-euro.de/schule
Penkun ist mit 1200 Einwohnern die kleinste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern und liegt im südlichsten Zipfel des Bundeslandes an der Grenze zu Brandenburg. Schon seit 2002 war die Situation in der Regionalen Schule Penkun prekär, zu wenige Schülerinnen und Schüler besuchten die Schule, die Schulschließung drohte. Doch die Penkuner kämpften um den Erhalt der Schule, zu groß war die Angst vor noch mehr Wegzügen, wenn die Schule schließen würde. Die Penkuner Regionalschule wurde zu einer Dreiländerschule zwischen Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Polen. Seitdem können auch Schülerinnen und Schüler aus Brandenburg die Schule wieder besuchen. Das war davor aufgrund schulrechtlicher Differenzen zwischen den Bundesländern nicht möglich. Außerdem wird die polnische Sprache verstärkt gefördert und unterrichtet, und es besteht eine enge Kooperation mit einer polnischen Partnerschule. Mit ihrem Schwerpunkt „Berufsorientierung“ möchte die Regionale Schule dazu beitragen, dass die Jugendlichen in der Region eine Zukunft haben. So bezieht sie Handwerker, Landwirte, soziale Einrichtungen und sonstige Firmen in ihr Berufsorientierungskonzept ein. In Klasse 8 beispielsweise gibt es das Rotationspraktikum: Die Schüler lernen im Schuljahr vier Berufsfelder kennen (Handwerk, Land- und Forstwirtschaft, soziale Einrichtungen sowie sonstige Berufe), indem sie einmal in der Woche einen Praktikumstag in den jeweiligen Einrichtungen haben. Langfristig hat Penkun aufgrund seiner Lage das Potenzial, zum Speckgürtel von Stettin und auch Berlin zu werden. Gut angebunden durch die A11 ist die Kleinstadt nur 30 Kilometer von der polnischen Hafenstadt und ca. 100 Kilometer von der deutschen Hauptstadt entfernt. Schon jetzt ziehen viele polnische Familien nach Penkun. Ein Teil der Ideen für die Stadt und insbesondere die Regionale Schule Penkun wurde 2018 im Rahmen des „UniDorf“ der Hochschule Neubrandenburg entwickelt. Dort entwickelten Studierende gemeinsam mit Schülerinnen und Bewohnern ein Zukunftsbild von „Penkun 2035“ und setzten Impulse.
Die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm wurde 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Noch vor ein paar Jahren war sie eine Problemschule mitten in einem sozialen Brennpunkt. Doch die Schule hat die Not zum Motor ihrer Entwicklung gemacht und trotz schwieriger Bedingungen eine Lernumgebung geschaffen, in der die individuellen Talente und Stärken jedes Kindes gefördert werden.
Äußerlich lässt sich dieser Erfolg lediglich erahnen – das eigentliche Wunder spiegelt sich vor allem in der didaktischen Leistung wider. Denn statt Probleme als Probleme anzusehen, werden sie mit einem mutigen und optimistischen Lachen angegangen. Unter dem Motto „Lachen, Leisten, Lesen“ können die Schüler Kompetenzen entwickeln und Talente entdecken und entfalten. Im täglichen Morgentanz werden die Sorgen weggetanzt und die Kinder starten mit einem Lächeln im Gesicht in den Unterricht. Im sogenannten Lernkaleidoskop arbeiten die Schüler nach eigenem Tempo, Anspruch und individuellen, wöchentlich wechselnden Lernzeitplänen. Nach jeder Hofpause wird eine Pausenbesprechung durchgeführt, um Konflikte aus dem Weg zu räumen und gleichzeitig soziale Kompetenzen und Lösungsorientierung zu trainieren und so das Bewusstsein für respektvolles Handeln zu fördern.
FAZIT – Was können wir von den Pionieren lernen, um das Morgen zu gestalten?
- Digitalisierung muss sinnvoll gedacht werden. Es geht nicht nur um das Bereitstellen von Infrastruktur und Devices, ebenso ist die Ausbildung von Lehrkräften einer der wichtigsten Bestandteile.
- Die Wissensvermittlung in offenen Lernräumen und flexiblen Raumkonzepten ermöglicht die Anpassung an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Offene Schulen beziehen außerschulische Initiativen mit ein.
- Die ganzheitliche Wissensvermittlung bereitet Schülerinnen und Schüler auf das Leben vor. Soziale Kompetenz, Selbstverantwortung und Berufsorientierung sollten ebenfalls einen festen Platz im Bildungsplan einnehmen.
- Individuelles und gemeinsames Lernen in Projektarbeiten sind maßgeblich für die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und führen zu mehr Chancengleichheit.
- Eine neue Lernkultur ist gefragt, in der Schülerinnen und Schüler individuell gefördert werden. Innovative Unterrichtskonzepte, motivierte und gut ausgebildete Pädagogen und attraktive Rahmenbedingen runden das Bild ab.
Quellen und Bildquellen: Trendguide, die Links zu den Schulen sind direkt im Text hinterlegt.